Schrecken am Abend

 

Mein Bruder ist 5 Jahre älter als ich. Wenn wir zu wild waren, drohten unsere Eltern mit dem Wullimann.

„Er ist ein düster gekleideter Mann mit schwarz gefärbtem Gesicht. Der uns verschleppt“, erzählten unsere Eltern. Davor hatten wir riesen Bammel.

 

Als er älter wurde, verängstigte ihn der schwarze Mann nicht mehr. Ich allerdings, war höchst schreckhaft, ob es vom Wullimann kam?

 

Womöglich durch meine Mutter, die sich Aktenzeichen XY im Fernsehen ansah und danach alle Zimmer durchsuchte.

Erst wurden die Schränke inspiziert und dann unter das Bett gesehen. Da sie niemals einen Einbrecher fand, entspannte sie sich bald wieder.

Mein Vater hatte meist Spätschicht. Somit fehlte ihr abends der männliche Beschützer und sie musste sich selbst um die Einbrecher kümmern.

 

Eine Zeitlang hatte mein Bruder einen riesen Spaß daran mich zu ärgern.

Wir saßen auf der Couch und er fuhr blitzschnell mit der Hand zu meinem Gesicht und sagte laut: „Huch.“

Ich schrie jedesmal auf.

Manchmal sagte er: „Ich erschrecke dich jetzt gleich.“

Obwohl ich es wusste, zuckte ich doch wieder zusammen, wenn er „Huch“ rief.

 

Da ich jünger war, musste ich früher ins Bett.

Dabei verkündete er einmal: „Ich komme später und werde dich erschrecken.“

 

Was sollte ich nur machen. Ich wusste doch, dass er es wieder schaffen würde mir einen Schrecken einzujagen. Mein Gehirn ratterte. Und dann… der rettende Gedanke.

 

Ich besaß eine wunderschöne Puppe. Sie hatte dunkelblondes Haar, wie ich. Was allerdings am wichtigsten war, die gleichen Stopsellocken. Ich legte sie in mein Bett und deckte sie zu. Nur noch ihre Mähne kam hervor. Mein Nachthemd drapierte ich so, dass ein Stück unter der Bettdecke heraus spitzelte. Ich betrachtete alles nochmal. Perfekt. Jetzt konnte es losgehen. Hinter der Tür lauernd, schmunzelte ich in mich hinein.

 

Er ließ nicht lange auf sich warten.

„Hallo“, rief er. „Ich komme.“

Er machte einige Schritte ins Zimmer und stand somit vor mir.

Ich reagierte blitzschnell. Kam hinter der Tür hervor und rief „Huch“.

Er taumelte rückwärts hinaus. Stand im Gang und hielt sich das Herz. Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer: „Was macht ihr denn für einen Lärm?“

Ich schaltete das Licht an und zeigte auf mein Bett. Sie fing schallend zu lachen an.

 

Eins kann ich sicher sagen. Er hat mich nie wieder erschreckt.

 

02.12.2017 Helga Sättler